
Skate for Future
Das
ätzende Geräusch des Weckers schubst sie
etwas unsanft in den neuen Tag. Sie
wird schlagartig wach und
wie
aus dem Nichts macht sich
wieder
diese Schwere
breit. Ihre
ToDo
Liste
schießt
ihr schneller
in den Kopf, als dass sie
hätte
sagen
könnte, wie ihre
Eltern heißen. Nicht, dass sie
das jemals
irgendwer in diesem Zustand gefragt hätte, aber der Vergleich macht
deutlich, wie viel Hirnkapazität ihre
tägliche
Aufgaben in Anspruch nehmen, obwohl sie
nicht mal die Waagerechte verlassen hat.
Da
herrscht dieser Druck, dass heute etwas geschafft werden muss. Sie
muss weiterkommen, sie
will alles
schaffen, was sie
sich
vorgenommen hat,
weil
sie sonst
das schlechte Gewissen plagt. Schneller, besser, weiter.
Die
letzten Tage hat das nicht geklappt. In ihrem
Magen dreht es sich, Enttäuschung. Aus Enttäuschung wird Wut, aus
Wut wird Angst, die
Angst, die sie
auch gestern schon so sehr beschäftigte,
dass sie
schon zum dritten Mal vertrödelte
ihre beste Freundin anzurufen, wider
vergaß,
die
längst überfälligen Rechnungen zu
bezahlen
und
versäumte,
den
richtigen Ton
anzuschlagen,
als
sie
ihren
Freund abends in der gemeinsamen Wohnung begrüßte.
Auf ihrer Facebook-Timeline türmen sich Videos von Menschen auf, die sich über „First World Problems“ aufregen.
“Was
ein scheiß.”, denkt
sie
und lege
das
Smartphone weg.
Laptop an, Konto-Check. Anfang des Monats und die Hälfe der Kohle
schon wieder abgebucht. Ein Gefühl von Mangel macht sich breit.
Warum, warum
schafft
sie
es nicht, einmal
einen vierstelligen Betrag auf ihrem
Konto zu halten?
Enttäuschung, Wut, Angst. Sie
fragt sich, was
das für ein Hamsterrad
ist,
in
dem sie förmlich gefangen ist.
Wem
muss sie hier überhaupt irgendetwas beweisen?
Panik. „Ich will hier raus!“, schreit
sie innerlich.
Alles um sie
herum läuft immer schneller, immer zielloser, immer steiler. „Wann
ist Schluss damit? Gibt es hier einen Aus-Knopf?“
Am nächsten Morgen wacht sie auf. Sie fühlt sich nicht danach aufzustehen. Ihr Körper signalisiert ihr, es ist Zeit herunterzufahren. Krankmeldung, schlechtes Gewissen, Angst. Sie fühlt sich schwach, zu schwach, um dem da draußen standzuhalten. Sie kann einfach nicht jeden Tag schneller, besser, effizienter. Sie möchte sich ausprobieren, kreativ sein, keinen Druck. Sie möchte sich nicht ständig vergleichen und von der Angst geplagt sein, nicht gut genug zu sein. Das fühlt sich alles so unnatürlich an.
„Unendliches Wachstum, dauernd auf dem neusten Stand? Das kann doch gar nicht funktionieren. Warum machen wir bei diesem sinnlosen Spiel überhaupt mit?“, denkt sie. „Niemand würde sich in ein Flugzeug setzen, was unendlich weit Richtung Himmel fliegt. Wer hat sich überlegt auf diesem Prinzip, des permanenten Wachstums, ein Wirtschaftssystem aufzubauen? Ich kann doch nicht die einzige sein, die sich fühlt, als würde sie unüberlegt etwas hinterherrennen, dessen Sinn und Ziel sie nicht kennt?“ Es fühlt sich an, als würde sie an etwas Arbeiten, was nie fertig wird. Da ist keine Widerstand, alle laufen einfach mit. Gnadenlos nach oben, was sich für sie manchmal anfühlt wie endloses Fallen.
An manchen Tagen
wünscht sie sich es wäre wie damals, als sie sich nach der Schule
das Skateboard schnappte und Stunden lang im Pool des Skater-Parks
ihre Runden fuhr. Es fühlte sich so leicht an - so mit dem Strom.
Das Auf uns Ab unter ihren Rollen, was sich bis in ihren Körper
hochzog, weil sie mit dem Verlauf des Untergrundes zu verschmelzen
schien, sich anzupassen wusste. Ein Flow, den sie lange nicht mehr
gespürt hatte. Es gab keine Richtung, alle rollten durcheinander und
aneinander vorbei. Egal ob Skateboards, Inlineskater oder Roller. Und
wenn jemand fiel, fuhr man nicht rücksichtslos darauf zu, man wich
aus und half sich hoch. Man rechnete einfach immer damit, dass sich
jemand hinpackte und manchmal wurde der größte Sturz sogar
gefeiert. War halt normal. Keine Scham, kein Gewinnen. Es war wie ein
Kreislauf, der einen Sinn ergab, schon aus dem Grund, weil er Freude
bereitete.
Sie blickte mit den Armen unter ihrem Kopf
verschränkt an die Decke, von der sich eine Spinne an einem Faden in
ihre Richtung bewegte. Auf und Ab, dachte sie. Sommer und Winter,
Vollmond und Neumond, Krankheit und Gesundheit. Es hat doch einen
Sinn nicht andauernd zu funktionieren. „Ich kann nicht unendlich
wachsen, aber ich kann gedeihen und durch das Auf und Ab im Leben
meine persönliche Form finden. Friedlich, gemeinsam mit anderen und
mit einem Gefühl des erfüllt Seins.“
Sie schnappte sich ihr altes Skateboard, ging aus der Tür und rollte los.
Unendliches Wachstum, dauernd auf dem neusten Stand? Das kann doch gar nicht funktionieren. Warum machen wir bei diesem sinnlosen Spiel überhaupt mit?
chriss.be.like.green
Instagram von chriss.be.like.green
Möchtest du eine Antwort in Form einer Story schreiben?